Dienstag, 8. Dezember 2015

Die Dinge, die nicht so sind, wie sie scheinen

In der Kabine neben mir testet eine (gefühlt echte) Münchnerin einen Mantel während ich auf die freundliche Verkaufsangestellte warte. Sie trägt himmelergreifende Schuhe, wichtige Haare und ihr Gesicht lässt auf Investitionen gegen das Altern im fünfstelligen Bereich schließen. Nicht frei von Vorurteilen baut sich in meinem Kopf das Bild der Millionärsgattin auf, die nachmittags in der Innenstadt flaniert (mir fällt dann auf, dass ich ja auch flaniert bin). Ich hab ein bisschen Respekt vor ihr, mit ihrem (unterstellten) finanziellen Hintergrund und ihrem mondänen Aussehen, mit den himmelhohen Schuhen und der kohlenhydratfreien Disziplin.

Wartend beobachte ich sie beim Posieren vor dem Spiegel und sehe für den Bruchteil einer Sekunde, wie besorgt sie aussieht. Die Besorgnis kann ich nicht teilen: Sie sieht schön aus, der Mantel auch und beide zusammen bilden ein tolles Team. Und doch weiterhin: kritische Augen, strenger Mund. Ich würde ihr gern was Nettes sagen, gegen die Narben vom Gesichtverändern, gegen die Sorgen und gegen die Angst, alt auszusehen. Sie würde mich sicher von oben ansehen und auslachen.

"Ich habe selten eine Frau gesehen, die diese Farbe so gut tragen kann wie Sie" traue ich mich todesmutig und in ihrem Gesicht fliegt alles Sorgenvolle weg, sie lacht und legt mir die Hände auf die Arme. "Ach danke, ich war mir unsicher". Ich bekräftige ihre Auswahl. Sie zeigt mir weitere Teile und ich rate ihr zu und ab, sage ihr, wie schön sie aussieht. Auf dem Weg aus dem Laden wippe ich ein bisschen zu unhörbarer Musik und hole mir dann eine Nussschnecke. 


Dienstag, 10. November 2015

"Sie sehen aus wie Hartz vier"

Ich flitze zur U-Bahn, suche einen Platz und schreibe dem Kollegen schnell, dass ich das Gutachten morgen schicke (ich hätte auch auf pinterest surfen können oder bei tinder oder ein Spiel spielen können, das tut hier nichts zur Sache).

"Schon des Hendi. Glei immer des Hendi. Koan Brruf, koa Ausbildung abers Hendi am Ohrwaschl". Mir gegenüber sitzt jemand und sucht meine Aufmerksamkeit. Ich starre auf die längst abgesendete Nachricht und fingiere Aktivität. "Konn ned lesn un ned schreibm abers Hendi immers Hendi, kein Brruf. Hobm Sie n Brrruf???" fragt er nun lauter. Ich lese Mails. Keine neuen. Ich versuche mir abzugewöhnen, meinen Titel zu nennen oder mir darauf etwas einzubilden, wünsche mir aber sehnlichst, dass jemand anruft und ich mich mit Doktor melden kann. "Turnschuh, Sie schaun aus wie Hartz Vier" erregt er sich. "Turnschuh un Schweißfieß, Sie schaun aus wie Hartz Vier. Sie hobm kein Berrruf, Sie sind Hartz Vier!!!"

Interpretation 1: Der mich Ansprechende könnte denken, ich sei Peter Hartz, "Vater" der Hartzreformen. Möglich. Gendermäßig passt das nicht ganz, alterstechnisch auch nicht. Davon ab lässt das Erkennen meiner Kleidung darauf schließen, dass er nicht kurzsichtig ist und somit eine Verwechslung unwahrscheinlich.

Interpretation 2: Er verbindet Turnschuhe (vermeintliche Schweißfüße) und ein Mobiltelefon mit dem Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Möglich. Das hieße nach wie vor nicht, dass ich keinen Beruf habe und auch nicht, dass ich nicht lesen und schreiben kann.

Interpretation 3: Der Ansprechende wertet mit seinen Worten diejenigen ab, die mehr als zwölf Monate arbeitssuchend sind und schreibt ihnen zu, dass sie ungebildet sind. Und zudem, dass ich auch ungebildet bin und nicht lesen und nicht schreiben kann.  

Ich könnte nun also brüllen: Ich bin promoviert Du alter ekliger Sack! Oder ich könnte zum Telefon greifen, irgendwo anrufen und ein berufliches Gespräch fingieren. HAHA, Überraschungseffekt, so ist das nämlich gar nicht, wie Du denkst, Du Blödi.

Macht aber nix besser. A) stelle ich mich mit ihm auf eine Stufe der Abwertung von Personen, die "Hartz Vier" beziehen. B) Gehe ich damit davon aus, dass es erlaubt ist, Menschen, die nicht lesen oder schreiben können, die vielleicht keinen Berufsabschluss haben, dumm anzumachen.

Eine weitere Frau steigt ein. Er brüllt "Un glei s Hendi, raus, hä?" SIe erschrickt, lacht höflich und sagt, dass sie selbstverständlich ein Buch liest. Ich steige aus.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Mein Essen ist sauberer als #eatclean

Als Leserin diverser Inhalte in sozialen Medien und Nutzerin von Sport-Apps (denken Sie jetzt, was Sie wollen) komme ich nicht umhin, den Begriff #eatclean stets aufs Neue zu lesen.

Eatclean bedeutet, so wollen es die Schreiber*innen, dass keine industriell produzierten Zusatzstoffe im Essen sind. Der Begriff wird allerdings meist von Schreiber*innen verwendet, deren Körpergewicht nah an oder unterhalb der Grenze zu Untergewicht verläuft, deren 'cleanes Eating' auch verbunden ist mit 'very very weniger Eating', aber #eatnothing klingt ja so unschön. Worum geht es also, wenn so genanntes sauberes Essen gegessen wird? Wenn nicht gerade Schädlinge im Essen herumkrabbeln oder die Pommes vorher auf der Straße lagen sind die allermeisten Essen sauber*. Essen wird unter Schutzatmosphäre verpackt und selbst der Salat ist nach kurzem Schleudern proper.

Wäre Essen sichtbar dreckig, würden wir es meistens nicht essen, zumindest nicht in Industriegesellschaften. Der ganze "Dreck" im Essen, wie ihn mein Vater nannte (früher Verfechter der demeter-Ernährung) soll also etwas sein, das künstlich hinzugefügt wurde, wie etwa Erdbeeraroma, Konservierungs- und Farbstoffe. Den sauberen Esser*innen von heute reicht der Verzicht auf Zusatzstoffe allerdings nicht aus: es muss nicht sauber sein, sondern klinisch rein. Die ganz ganz blitzsauberen Cleaneater verarbeiten ihr Gemüse nicht mehr, allenfalls wird es roh in einen Smoothie geschreddert (ich hoffe allerdings, sie waschen es vorher).

Alle anderen, diejenigen, die Kekse essen, Baguette (Weißmehl-Alarm), die Cola trinken, Rotwein, Joghurt mit Geschmack, Apfelmus, Dosenravioli (überhaupt Pasta!!!); Pudding, Eiscreme essen dreckiges Essen. Mit dem Selbstpostulat #eatclean ist die Abwertung (auch moralisch) aller anderen Esser*innen verbunden, die nämlich vermutlich #eatdirty genannt werden müssen, was sie in eine Reihe stellt mit Dreijährigen, die den Sand aus dem Sandkasten essen (die Dreijährigen werden allerdings davon abgehalten, die erwachsenen Dirteater nicht). Wo wir bei Dreijährigen sind (ich möchte hier ganz und gar jugendfrei argumentieren): wer sich an Matschepampe im Sandkasten erinnert, weiß auch noch, wie viel Spaß Dreck machen kann. Genuss kann dreckig sein, Dreck ist nichts Schlimmes.

Dass mit dem sauberen Essen auch all diejenigen als dreckige Esser*innen definiert werden, die sich das saubere Essen zeitlich und finanziell nicht leisten können, zeigt, dass nicht nur ein moralischer, sondern auch ein Schichteffekt mit der Sauberkeit verbunden ist. Das Verlogene daran ist, dass mit der Sauberkeit der vermutlich eigentliche Wunsch nach Schlankheit jenseits der latenten Anorektikergrenze gemeint ist, setzt dem sauberen Essen den dritten Fleck auf die weiße Weste. Ich nage daher versonnen an meinem unheimlich dreckigen Schokoriegel und hashtagge fortan #eatdirty.

*wobei an dieser Stelle ein deutlicher Appell an die Bäckereien geht: Bitte deckt doch Eure Streuselschnecken ab, wenn der Laden voller Wespen ist. Wespen setzen sich auf alles, auch auf Dreck. 

Donnerstag, 24. September 2015

so junge Frauen

Ich sitze im Wartezimmer eines geschlechtlich konnotierten Arztes als eine Frau im Alter meiner Mutter sich zu mir gesellt und den Platz neben mir auf dem Sofa einnimmt.
"Sie sind ja so eine junge Frau" stellt sie fest. Ich denke, dass Jugend vermutlich doch ein relationales statt ein generationales Konzept ist und lächle.
"So eine junge Frau, Sie könnten ja hier sein, weil Sie ein Baby bekommen". Ich lächle sehr zurückhaltend und sage nichts. Sie schweigt kurz, fühlt sich aber offenbar bemüßigt, weiter zu investigieren:
"Bekommen Sie ein Baby?!"
"Nein" antworte ich.
Sie täubelt vor sich hin gurrt und atmet. Ich hoffe auf Stillarbeit doch sie holt bereits wieder Luft:
"Haben Sie Kinder?!"
Ich verneine während Sie sagt: "Ich hab zwei. Schade, ja schade, aber Sie sind ja noch so jung, das wird noch."
Ich schweige.
"Ach ich bin ja so neugierig, ich bin ja so neugierig" stellt sie hellsichtig fest. Ich schweige.


Im Geiste atme ich mich method-acting-mäßig in die Rolle der verlassenen Frau mit dringendem Kinderwunsch und möchte ihr eine Szene machen als sie zur Zeitschrift greift, zielsicher die Doppelseite mit der Hochzeit aufschlägt und mir begeistert das Hochzeitskleid einer Spielergattin zeigt. "So ein schönes Gwand, so schön oder?! Aber ein wenig unpraktisch, gell..."
Ich erwarte die Frage nach meinem Familienstand als mein Name aufgerufen wird. "Das wird schon noch mit ihrer Neugier" will ich sagen aber verlasse nur fluchtartig den Sofaplatz.


Dienstag, 18. August 2015

Schleuser und Innenminister

Disclaimer: ich will hier echt nicht den Till-Schweiger machen, aber...

Ich sehe nicht oft Nachrichten im Fernsehen, aber gestern war es so weit. Begleitet von einem hoch seriösen Sprecher eines öffentlich-rechtlichen Senders wurden erst Bilder von Kos gezeigt. Fliehende Familien, die auf der Insel festsitzen, kein Geld mehr haben und keine Überfahrt genehmigt bekommen. Die Bildsprache war eindeutig: Die Kamera hielt lange auf ein kleines Mädchen, das orientierungslos auf dem Steg stand. Danach kam eine Berichterstattung über so genannte "Schleuser", die fliehende Gruppen von Menschen an Autbahnraststätten absetzen und deren Tätigkeit dringend eingeschränkt werden müsse, da auch die deutsche Bundespolizei überfordert sei (Bildsprache: Familien mit Mädchen hinter Bauzäunen, auf Autobahnen, Polizisten von hinten, damit man das "Polizei"-Logo sieht). Man müsse durch die Einschränkung der Tätigkeiten der Fluchthelfer klarmachen (so der bayerische Innenminister - Bildsprache: Antischleuser), dass die Familie ihr Geld in "Schleuserbanden" "falsch investieren".

Es wurden - wie in den Nachrichten üblich - keine Zusammenhänge zwischen der Geschichte von Kos (Menschen kommen nicht weiter wegen behördlicher Hürden) und den Fluchthelfern (die auf nicht-behördlichem Weg und vermutlich in der Tat für viel Geld und unter schlechten Bedingungen die Flucht unterstützen) hergestellt. Die schmerzhafte Ironie wuchs auf ihr Maximum, als dann ein Beitrag kam, der zeigte, wie in Syrien mehrere Menschen durch einen Bombenanschlag getötet wurden (Bild: zerstörter Platz).

Weder fühlte sich der seriöse Sprecher oder irgendjemand der Redaktion bemüssigt, die Meldungen in einen Zusammenhang zu bringen. Um mein ständiges Mit-der-Hand-an-die-Stirn-Schlagen nicht noch zu verlängern kam dann Wetter oder Fußball oder Lottozahlen, was weiß ich.

Wir drehen hypothetisch mal die Reihenfolge um (im Sendung-mit-der-Maus-Modus): In Syrien (oder einem anderen Land, aus dem Menschen fliehen wollen) ist die Lage ziemlich unsicher, weil man damit rechnen muss, erschossen zu werden. Also fliehen Menschen und stoßen dabei auf Hürden (z.B. das Mittelmeer oder Zäune). Um diese Hürden zu überwinden, zahlen sie Geld an Personen ("Schleuserbanden" genannt), die ihnen versprechen, dass sie sie über das Mittelmeer bringen. Das ist keine Investition sondern Überlebenswille.

Da braucht man gar keinen Innenminister zu fragen, das erklärt sich dann ganz von allein.

Montag, 13. Juli 2015

Ausländer-Ich

Wir reden über Hamburg. Sie redet, weil ich entweder Ultraschall, Sandstrahler oder Sauger im Mund habe. Meine professionelle Zahnreinigerin ist sehr professionell, redet aber auch gern, vor allem, um mich abzulenken. Das gelingt ihr, als sie einen Satz beginnt, der zurzeit ziemlich populär ist: "Also ich bin ja keine Rassistin oder so..." Es kommt, was kommen muss. Ich versuche, "doch" zu sagen, aber es kommt nur ein "gnä". Sie fährt fort: "...aber in der U-Bahn in Hamburg, da sieht man ja keine Deutschen mehr. Da bin ich die einzige. Da fühl ich mich nicht wohl. Da sieht man keinen Stefan und Andreas mehr" sagt sie und kratzt am Zahn "nur noch Ali und Muhammed. Und in Berlin ist das genauso" knirscht sie an meinem Zahnhals entlang. Ich antworte: "ngnää!"

Eine kurze Gerätepause nutzend platze ich heraus: "Also ich bin ja aus Berlin und ich bin Ausländerin. Ich schätze das sehr." Sie greift zum Sauger. Ich denke, dass das jetzt komisch ankommt, dass ich das sehr schätze. Was denn? Dass ich "Ausländerin" bin? Dass es in der U-Bahn so viele "Ausländer" gibt und keine Stefans und Andreasse? Meine Schlagfertigkeit hat offenbar ihren Höhepunkt erreicht, wenn mich jemand mit dem Ultraschall bedroht. Ich überlege, wie ich das klären kann und....Zack! habe ich den Sauger im Mund und bin wieder mundtot.

Ich kralle die Nägel in die Handfläche und schlucke Schaum. Sie gibt nicht auf: "Hier in München, da hat man eine gute Mischung, von allem etwas! So muss das sein." "Hnnnngn" gebe ich auf. Ich schäme mich, dass ich die "Migrationskarte" gespielt habe und ich bin sauer, dass ich nicht einfach aufgestanden und gegangen bin.

Ich spüle mir brav den Mund sauber, lasse mich tupfen und mit Fluorid bepinseln und mir zeigen, wie ich das alles richtig mache mit der Prophylaxe. Wie ich blöden Rassismussprüchen vorbeugen kann hab ich leider nicht gelernt.

Mittwoch, 3. Juni 2015

Die Kinder der Deutschen

Eine neue Zahl steht in der Zeitung: Deutschland bildet mit seiner Geburtenzahl pro 1000 Einwohner das Schlusslicht. Das Schlusslicht der Welt. Die Deutschen bekommen nämlich nur 8,28 Kinder und sogar die Japaner kriegen mehr, nämlich 8,36. Man stellt sich automatisch 8 Kinder vor und dann nochmal 0,28. Also ungefähr ein Viertel Kind. Ein Viertel Kind würde anatomisch heißen, dass man vielleicht nur einen Arm gebähren muss. Gruselig. In Zeiteinheiten hätte man dann nur an 1,75 Tagen pro Woche ein Kind. Würde prima zu einer 30-Stunden-Stelle passen. Auch gruselig.

Die Presse griff das Thema dankbar auf, passt es doch so schön in gerade florierende Debatten über homosexuelle Paare, die nämlich keine Kinder kriegen KÖNNEN - deshalb auch nicht heiraten dürfen SOLLEN. Und auch sonst, Frauenquote, Paygap, Vereinbarkeit - alles, wirklich alles lässt sich mit der Geburtenrate verbinden, erklären, moralisch festtackern. Es wird also gefragt: warum kriegen die Deutschen so wenig Kinder? Ja. Die Deutschen (genaugenommen die Frauen, und noch genauer sind die ja nicht alle deutsch, weil da ja noch viel mehr Menschen leben und noch viel genauer ja nur die gebährfähigen). Warum nochmal? Achja, weil sie Hedonisten sind. Hedonistinnen, deutsche Hedonistinnen, deutsche gebährfähige Hedonistinnen, die sich lieber in der Agentur selbst verwirklichen und Latte trinken und abends auch noch Gin Tonic. Oder Schlimmeres.

Ich schweife ab und will einen Drink. Ach nein. Aber jedenfalls lieber einen Kaffee. Und denke dabei an die, die alle nicht in Agenturen arbeiten sondern im Supermarkt oder an der Flughafensicherheit.

Warum kriegen die Deutschen so wenig Kinder?* Hinter dieser Frage lauert der kollektive generationale Suizid, die Deutschen, ach, sie wollen einfach nicht mehr. Sie wollen nicht mehr adressiert werden und das Kinderkriegen fast schon als Pflicht des gesellschaftlichen Erhalts sehen. Ist das wirklich hedonistisch? Man könnte es auch als ganz sinnvolle Abwehrhaltung verstehen, die die Entscheidung für eine Familie zu einem höchst privaten Entschluss werden lässt, bei dem frau und man (oder man und man oder wer auch immer) sich hoffentlich als allerallerletztes oder besser nie überlegen, dass sie Deutsche sind.

Vor diesem Hintergrund, der Kinderzahlen als Wirtschaftsfaktor ansieht, mit dem man sich im internationalen Vergleich brüsten kann oder als Schlusslicht gilt, würde ich mir fast wünschen, dass noch weniger Kinder geboren werden, ach was, verzichten wir doch auf die 0,28, wer will schon nur ein Viertel Kind? ... Aber nein: Kinder sollen doch geboren werden oder eben auch nicht, wenn es nicht passt, nicht geht oder nicht gewollt ist. Mehr Gelassenheit würde ich mir wünschen und mehr Kümmern um die Kinder, die jetzt da sind. 

*Rahmenbedingungen, Kinderbetreuung, Gleichberechtigung und dass das alles kompliziert ist sei an dieser Stelle geschenkt, das wissen wir ja und das mag ich jetzt nicht wiedergeben.

Mittwoch, 20. Mai 2015

Einfach mal so

Zwei Männer schreien. Ich denke, dass das nicht ungewöhnlich ist und als noch eine Frau schreit, bin ich auch nicht beunruhigt. Als das Schreien der Frau in ein Quietschen und Wimmern übergeht, das einerseits wie ein Welpen klingt, andererseits aber ziemlich verzweifelt, halte ich inne. Ich kenne das Gefühl, glaube ich, und überlege, mich umzudrehen. Ich will eigentlich nach Hause. Als gleichzeitig zwei Menschen über die Straße rennen und die zwei Männer und die Frau anschreien, drehe ich mich um und renne zurück. Das Wimmern wird lauter und schriller, das Schreien auch und die Balkontür klappt zu. Man hört nichts mehr.

Ein Mann steht noch auf dem Balkon, zündet sich eine Zigarette an und ruft: er ist da drin, rufen Sie die Polizei. Ich rufe, "soll ich die Polizei rufen?" Alle um mich rum brüllen mich an "rufen Sie die Polizei!".

Als das Auto eintrifft, ist es ruhig. Ich weiß nicht, was passiert, werde nach Hause geschickt. Ich schließe meine Wohnung auf und fange an zu Weinen. Die Katze hat sich auf ihr Futter gefreut. Die Katze guckt erschrocken. Sie hat trotzdem Hunger. Ich füttere die Katze, putze meine ganze Wohnung und bin froh um den Frieden.

Gewalt in Familien sieht man meistens nicht. Man hört sie nicht, weil Weinen sich auch anhören kann wie Lachen, weil man bei den meisten Schreien denkt, ach die kabbeln sich einfach mal so. Ich werde zukünftig genauer hinhören.

Montag, 6. April 2015

Der kleine und der große Unterschied

Ein Münchner Herrenausstatter hat die Stadt mit nackten Männern plakatiert, untermalt mit der Frage: "Wer kann Mann?". Ergebnis der Kampagne ist, dass der besagte Ausstatter "Mann kann". die dritte Runde der Plakataktion zeigt die zuvor nackten Männer halb angezogen, halb nackt.
Wenn die ganze Stadt mit nackten Frauen plakatiert gewesen wäre, hätte ich sofort gesagt, dass die Kampagne sexistisch ist. Kann Mann Sexismus ausgesetzt sein? Ist diese Kampagne sexistisch? Ich denke: ja und nein. Die Männer auf den Bildern wurden ausnahmslos zwar nackt, aber dabei nicht vergleichbar mit Frauen in einer Unterwäschekampagne dargestellt. Wir erinnern uns: Frauen liegen hingestreckt, mit leicht geöffnetem Mund auf zerwühlten Laken. Die Männer in der "Kann-Mann"-Kampagne wurden stark, muskulös und keinesfalls hingestreckt dargestellt. Ein Mann hat eine Startposition wie bei einem Rennen.

Und trotzdem werden sie auf den Plakaten reduziert: alle Männer in der Kampagne entsprechen, nackt oder angezogen, dem Bild, das von Männern erwartet wird. Sie haben Muckis, sie lassen sich keine Butter vom Brot nehmen, angezogen oder nackt. Es wird also für die Männer genau wie für die Frauen angenommen, dass sie genau einem Bild entsprechen können: Frauen - nackt - hingegeben - Laken - offenmundig. Männer - nackt - stark - Rennen - Starten.

Will ich jetzt verbieten, dass Werbung Haut zeigt? Erstmal: nein. Aber ich will Vielfalt sehen: Frauen, die, wenn sie schon in Unterwäsche gezeigt werden, mal was anderes machen, als mit offenem Mund rumzuliegen. Und Männer, die auch ohne Muckis in der Renn-Start-Position sitzen. Das ist vermutlich ein weiter Weg. Aber er kann ja irgendwann man anfangen...

Freitag, 3. April 2015

Das optimale Selbst

Höchst erfoglreiche Personen haben Morgenroutinen. Das vertreten Blogs, die sich der Erhöhung von Produktivität und der Selbstoptimierung verschrieben haben. Diese Rolemodels der Selbstoptimierung stehen (standen) zwischen 5 und 6 auf, machen 45 Minuten Sport, lesen dann ihre Mails, gehen duschen, treffen Entscheidungen und sind um 8 Uhr bei ihrem höchst erfolgreichen Job, wo sie entsprechend wach ihre optimale Produktivität ausagieren. Die Morning Rituals kann jeder erreichen, sagt z. B. Jeff Sanders, der den Podcast "the five a.m. miracle" betreibt. Mit dem markigen Satz "dominate your day before breakfast", blendendem Lächeln und dem Rat, vor dem Frühstück einen Liter Wasser zu trinken (dann übrigens - so Sanders - seinen Weg zur Arbeit entlang der öffentlich zugänglichen Toiletten zu planen - kein Witz) weiß Sanders, dass jeder erfolgreich werden kann. Jeder. Wenn er um 5 Uhr aufsteht.

Die höchst erfolgreiche Sicherheitsangestellte am Flughafen Franz-Josef-Strauß sitzt um 5 Uhr bereits in der S 8 und passiert gerade Hallbergmoos. Die höchst erfolgreiche Krankenschwester kommt um 5 von der Nachtschicht nach Hause und fällt todmüde aufs Sofa. Die höchst erfolgreichen Eltern eines 3 Monate alten Babys stehen um fünf auf. Sie dominieren ihren Tag vor dem Frühstück. Oder lassen ihn dominieren, von den ziemlich basalen Bedürfnissen des Säuglings.

Der Wunsch nach Produktivität und Erfolg ist nachvollziehbar und er treibt mich auch um. Sonst hätte ich nicht eine Folge des 5-Uhr-Wunders gehört (naja, eine halbe). Für mich haben diese Morgenrituale aber einen basalen Makel: Dass Steve Jobs um 5 Uhr vor dem Spiegel stand und sich die Frage stellte, was wäre, wenn das der letzte Tag seines Lebens wäre [und so weiter], dass andere um 5 auf dem Laufband stehen oder literweise Wasser trinken funktioniert nur ab einer halbwegs privilegierten Situation. Dann, wenn eigentlich alles stimmt - Einkommen, private Situation und deren Entlastung, Zeitbudgets und Gesundheit. Das, was den (im wirtschaftlichen Sinne) erfolgreichen Menschen zum supererfolgreichen macht, kann vielleicht dadurch erreicht werden, dass er um fünf Uhr aufsteht. Für die Flughafenangestellte stimmt das nicht. Sie steht ohnehin um vier Uhr auf. Weil sie muss.

Und nicht zuletzt lässt mich der Gedanke schaudern, dass jeder Spaß und Genuss der Aufforderung untergeordnet wird, um 5:15 auf dem Laufband zu stehen. Wenn nicht einmal der Morgen mehr der freien Entfaltung dienen kann, dann würde ich die klassische Steve-Jobs-Frage vielleicht irgendwann auch mit "Nein" beantworten.

Mittwoch, 25. März 2015

Widersprüche

In einem Interview mit der Zeit sagt Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard, Nobelpreisträgern und Gründerin einer Stiftung zur Unterstützung junger Wissenschaftlerinnen mit Kindern, dass Frauen erstens vermutlich zu wenig ehrgeizig seien, um eine Wissenschaftlerinnen-Karriere zu verfolgen. Zweitens sollten sie nicht so zimperlich sein, sich durchsetzen und weniger vor dem Spiegel herumstehen. Ich habe ziemlich lange (also etwa 6 Tage) über dieses Interview nachgedacht und schwankte zwischen Wut und Zustimmung.

Die Wut ist verraucht. Und angesichts des biografischen Hintergrunds von Fr. Prof. Dr. Nüsslein-Volhard erscheint mir nachvollziehbar, dass sie ihre Wissenschaftlerinnenkarriere unter diesen Prämissen durchgezogen hat. Dass man nicht erwarten könne, neben der Wissenschaft auch noch eine "hundertprozentig gute Mutter und supergepflegte Ehefrau" zu sein, würde ich teilen. Was mir aber fehlt, ist das grundsätzliche Mitdenken, dass die meisten Wissenschaftskarrieren in Umfeldern stattfinden, die tradiert männliche Erwerbsbiografien voraussetzen - verheiratet mit nicht arbeitender Ehefrau und freiem Rücken.Und dass es auch ohne Wissenschaft nicht sein muss mit den hundert Prozent und supergepflegt.

Was mir auch fehlt, ist die Reflektion, dass Frauen eben doch nach ihrem Aussehen beurteilt werden. Eine Frauenzeitschrift schreibt kurz vor dem Equal-Pay-Day Tipps für seriöses Büro-Make-Up. Das Foto von Nüsslein-Volhard auf der Homepage der Max-Planck-Gesellschaft zeigt sie mit Lippenstift und "supergepflegt". Ich bezweifle auch grundsätzlich, dass die An- oder Abwesenheit von Wimperntusche und die Auftragezeit vor dem Spiegel (probiert das mal ohne Spiegel!!!) über den Erfolg in der Wissenschaft entscheidet. Es entscheiden zurzeit überwiegend Qualität, Kontakte, Ergebnisse, Relevanz und ein paar andere Dinge. Die werden aber noch immer vielfach von Personen entschieden, bei denen es mit Gleichstellung nicht so weit her ist. Die von einer Frau was anderes erwarten als von einem Mann. Zum Beispiel, dass erstere Lippenstift trägt und letzterer nicht. Und ein paar andere Dinge. Echte Gleichberechtigung in der Wissenschaft und in anderen zeit- und energiekonsumierenden Karrieren wäre doch dann erreicht, wenn es okay ist, dass man private Verpflichtungen hat und wenn es okay ist, mit oder ohne Schminke zu kommen - als Mann oder als Frau. Ich jedenfalls bin nur dann zimperlich, wenn es um Spinnen geht.


Samstag, 28. Februar 2015

Auch das geht vorüber

Der Winter ist trüb und schlägt mir langsam aufs Gemüt. Mir ist kalt, mir fehlt Sonne. Freund D erzählt von Tageslichtlampe und Vitamin D in Tablettenform. Ich will fröhlicher sein und gehe ich einen Drogerieladen, um wenigstens Tabletten zu kaufen. Vor dem Regal mit Nahrungsergänzung finde ich Lösungen für alles: Haare, Haut, Nägel, Haare-Haut-Nägel, Knochen, Frauen, Männer, Schwangerschaft, Schlafen und Wachen. Es gibt Vitamine für jede Lebenslage, sogar Schlaumachvitamine für Kinder (kein Witz - ich dachte immer, da hilft Bildung, aber wer weiß das schon). Vitamin D gibt es in verschiedenen Darreichungsformen und ich frage deshalb die im Vitaminregal tätige Mitarbeiterin. "Sagen Sie, dieses Vitamin, das bei Lichtmangel hilft - D - welches nimmt man denn da?" frage ich. Die Mitarbeiterin räumt Schachteln und zeigt auf die verschiedenen Packungen und reicht mir dann die mit der höchsten Dosierung. "Kann man das denn überdosieren?" will ich wissen.

"Können Sie schon. Aber eigentlich brauchen Sie sowieso keine Extravitamine" antwortet die Verkäuferin. Ich bin irritiert. Mit großer Energie räumt sie weitere Röhrchen herum und sagt: "wenn Ihnen die Sonne fehlt, sind Sie halt ein bisschen depressiv - na und? Dann sind Sie eben schlecht gelaunt. Das geht vorüber, wenn der Winter vorbei ist."

Sie schweigt und guckt fast wie ein Guru. Ich bin geneigt ihr noch ein paar Fragen über das Leben zu stellen,
bedanke mich aber nur höflich. Auf dem Weg zur U-Bahn mit leeren Taschen bin ich dankbar, dass die Verkäuferin ehrlich war. Der Himmel reißt auf, ich gehe die Treppe runter und halte dabei die Nase kurz in die Sonne. Bald ist Frühling. Darauf freue ich mich. 

Mittwoch, 18. Februar 2015

Tanzen und Schweigen

Ich tanze Tango und ich tanze gern. Es gibt Regeln beim Tango, die etwas antiquiert erscheinen, so wird frau auf der Milonga von einem Mann durch Blickkontakt aufgefordert und senkt den Blick, um eine Ablehnung zu signalisieren. Da auf den meisten  (hetero-)Milongas (Tanzveranstaltungen) mehr Frauen als Männer sind, müssen sich die wenigsten Männer um Mangel an zurückschauenden Partnerinnen sorgen, die meisten Frauen kommen mit tanzendem Partner, sofern verfügbar oder riskieren es, einen Abend sitzen zu bleiben. Aufgrund der ständig notwendigen Aufmerksamkeit, die nötig ist, um einen Blick nicht zu verpassen, unterhalten sich viele Frauen nicht mit anderen Frauen. Kommt ein Gespräch zustande, kann es durch Tanz-Blick-Aufforderung unterbrochen werden. Wer noch niemanden in der "Szene" kennt, sollte sich möglichst schick kleiden, um aufzufallen und möglichst zu Beginn mit einem guten Partner tanzen, damit die anderen potenziellen Tänzer nicht abgeschreckt werden.

Ich hatte bislang gedacht, all das ist ein, zugegeben ziemlich patriarchales, Spiel, das alle durchschauen und notwendigerweise mitspielen. Bis ich an einer Online-Diskussion zu ebendieser Aufforderungspraxis teilgenommen habe. Dort wurde mir klar, dass zahlreiche (hetero)-Männer sich tatsächlich als Ritter/Prinzen begreifen, dass sie Frauen als Damen sehen, die Benimm zollen sollten und dass Frauen, die sich nicht an Regeln halten, als "etwas" bezeichnet werden. Ich bin nicht mehr sicher, dass das Ausbleiben von Gesprächen bei Milongas nicht doch die bessere Option ist. So tanze ich und schweige.

Dienstag, 3. Februar 2015

Lächeln und Schweigen

"Haben Sie Kinder?" fragt der Orthopäde. Ich verneine freundlich. Er blickt auf den Anamnesebogen, dann kritisch auf mich: "Aber Kinder sind schon bald geplant!" Ich überlege, ihm zu erläutern, dass es auch in meinem Alter andere Lebenspläne als Kinder gibt, entscheide dann aber, dass ihn das nichts angeht. Ich schüttele nur den Kopf. "Wissen Sie, dann sollten wir die Operation schon bald machen, wenn Sie Kinder wollen." Ich schweige und versuche, weiterhin freundlich zu lächeln, während ich sage, dass ich in den nächsten Jahren keine Kinder haben werde, die zeitliche Planung der Operation also nicht mit Fortpflanzungswünschen abgestimmt werden müsse.

Er guckt auf meine Füße, dann auf das Röntgenbild, dann auf mich, "ich denke, wir sollten bald operieren, denn wenn der Traumprinz kommt und Sie dann sagen, Sie wollen fünf Kinder und das am besten sofort, dann ist es zeitlich schon schwierig." Wieder überlege ich, ob ich ihn über meinen Beziehungsstatus aufklären soll, ob ich sagen soll, was ich von Männern im Traum halte oder auch, dass ich dem Grunde nach nur ungern etwas mit einem Prinzen anfangen möchte, verlege mich aber auf Lächeln und Schweigen, denn das bringt Prinzessinnen ja auch weiter.

Zu Hause beiße ich in einen Apfel und lege mich in meinen gläsernen Sarg.