Dienstag, 8. Dezember 2015

Die Dinge, die nicht so sind, wie sie scheinen

In der Kabine neben mir testet eine (gefühlt echte) Münchnerin einen Mantel während ich auf die freundliche Verkaufsangestellte warte. Sie trägt himmelergreifende Schuhe, wichtige Haare und ihr Gesicht lässt auf Investitionen gegen das Altern im fünfstelligen Bereich schließen. Nicht frei von Vorurteilen baut sich in meinem Kopf das Bild der Millionärsgattin auf, die nachmittags in der Innenstadt flaniert (mir fällt dann auf, dass ich ja auch flaniert bin). Ich hab ein bisschen Respekt vor ihr, mit ihrem (unterstellten) finanziellen Hintergrund und ihrem mondänen Aussehen, mit den himmelhohen Schuhen und der kohlenhydratfreien Disziplin.

Wartend beobachte ich sie beim Posieren vor dem Spiegel und sehe für den Bruchteil einer Sekunde, wie besorgt sie aussieht. Die Besorgnis kann ich nicht teilen: Sie sieht schön aus, der Mantel auch und beide zusammen bilden ein tolles Team. Und doch weiterhin: kritische Augen, strenger Mund. Ich würde ihr gern was Nettes sagen, gegen die Narben vom Gesichtverändern, gegen die Sorgen und gegen die Angst, alt auszusehen. Sie würde mich sicher von oben ansehen und auslachen.

"Ich habe selten eine Frau gesehen, die diese Farbe so gut tragen kann wie Sie" traue ich mich todesmutig und in ihrem Gesicht fliegt alles Sorgenvolle weg, sie lacht und legt mir die Hände auf die Arme. "Ach danke, ich war mir unsicher". Ich bekräftige ihre Auswahl. Sie zeigt mir weitere Teile und ich rate ihr zu und ab, sage ihr, wie schön sie aussieht. Auf dem Weg aus dem Laden wippe ich ein bisschen zu unhörbarer Musik und hole mir dann eine Nussschnecke.