Donnerstag, 15. März 2018

Zu (Ver-)kürzungen, Konjunktiven und - ja tatsächlich - Jens Spahn

Vor gefühlt ein bis zwei Wochen ging die Meldung zum Ausschluss von Migrant*innen durch die Tafel in Essen durch die Presse. Das Konzept, Menschen im Bezug von Leistungen nach dem SGB II und anderen 'Bedürftigen' (die Anführungszeichen sprechen nicht den Bedarf ab sondern kritisieren die Bezeichnung*) vergünstigt oder kostenfrei Essen zur Verfügung zu stellen (das ansonsten im Müll landen würde) scheint so naheliegend, dass Kritik daran fast ausgeschlossen ist. Und doch: die Aufteilung von Menschen in zwei Gruppen, diejenigen, die ihr Essen im Supermarkt kaufen und diejenigen, die an der Tafel anstehen, der Zugriff auf das Verhalten (in Konsum und auch im Sozialen) sowie die schleichende Normalisierung von Armut - einer Armut, die die Lebensgrundlage angreift - werden immer wieder kritisiert. Holger Schoneville hat dazu promoviert, Stefan Selke spricht von Armutsökonomie und verschiedene andere Sozialwissenschaftler*innen haben Stellung bezogen. Ich habe in einem Twitter-Beitrag, brav an 140 Zeichen orientiert, die Ereignisse bei der Tafel in Essen als Rassismus bezeichnet. Sicherlich hätte ich das noch differenzierter ausdrücken können, im Kern bleibt es aber für mich eine Diskriminierung von Migrant*innen - ergo auch Rassismus. Mir ist eine breite Welle von aggressiven Kommentaren begegnet, die mir vor allem zeigen: die Menschen, die sich ehrenamtlich für die Tafeln engagieren, haben ein enormes Anerkennungsdefizit und scheinen an einer Grenze der Belastung tätig zu sein, die schnell in Aggression umschlägt. Zumindest hoffe ich das. Und klar: 140 Zeichen verkürzen auf der einen wie auf der anderen Seite.

Der mir politisch nicht nahe stehende Jens Spahn hat dazu gesagt, ohne Tafeln müsse in Deutschland niemand hungern und hat damit einen Shitstorm größeren Ausmaßes losgetreten. Sicher auch wesentlich mehr Aggression als ich sie erlebt habe.

In §1 des SGB II heißt es: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.  Das heißt unter anderem, dass das Gesetz vorsieht, dass der Lebensunterhalt finanziell gesichert wird. Die Höhe der Leistungen orientiert sich am so genannten Regelsatz, der statistisch anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festgelegt wird. An diesem Existenzminimum werden auch Steuerfreibeträge, Unterhalt, Renten und viele andere Leistungen orientiert. Das heißt, wird das Existenzminimum angehoben, steigen auch Steuerfreibeträge und einige andere Leistungen.

Aber wie wird der Regelsatz berechnet? Laut dem Paritätischen Gesamtverband wird der Regelsatz aktuell an den Ausgaben der untersten 15% der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe orientiert, bis 2011 waren es noch die untersten 20%. Seitens des Paritätischen wird eine Anhebung der Regelsätze um mindestens 27% gefordert. Zumindest ist klar: die Festlegung der Referenzgruppe für die Regelsätze liegt in der Hand der Politik.

Wenn also die Regelsätze zu gering sind zum Leben und Menschen deshalb Lebensmittelspenden brauchen, sprich mit Hartz IV hungern müssen (und das scheint der Fall zu sein), dann erreicht die Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II vulgo Hartz IV) ihr Ziel nicht. Und wie bei allen anderen Gesetzen müsste dann etwas geändert werden, weil die Real-Evaluation zeigt, dass das Mist ist. Jens Spahn hätte also Recht, wenn er gesagt hätte, mit Hartz IV sollte niemand zu den Tafeln gehen müssen. Aber eben im Konjunktiv: Menschenwürde heißt, nicht auf Lebensmittelspenden angewiesen zu sein.

Insofern kann die Äußerung von Spahn seitens Olaf Scholz als kaltherzig bezeichnet werden - er als zukünftiger Finanzminister hat es aber in der Hand, warmherziger zu handeln. Oder zumindest weniger kaltherzig. Und an seinen Taten sollte er auch gemessen werden. Wenn aber weiterhin stillschweigend hingenommen wird, dass Menschen Lebensmittelspenden benötigen, weil sie mit den ihnen gesetzlich zustehenden Leistungen nicht auskommen, dann ist das faktisch die Akzeptanz von Armut und mithin die Delegation von staatlichen Aufgaben der Existenzsicherung an ehrenamtliche Akteure. Was die mit der Würde der Menschen die dort Hilfe suchen anstellen, welche Verhaltensregeln gelten und welche nicht obliegt eben nicht mehr staatlichen Akteuren.

Das heißt umgekehrt: die Sicherung der Würde (unter anderem durch genug zu Essen) muss in staatlicher Hand liegen. Dann müsste auch ohne Tafeln in Deutschland niemand hungern und das wäre auch der gesetzliche Auftrag. Konjunktiv, wie gesagt.

*Bedürftige reduziert diejenigen auf die Bedürftigkeit. Sie sind ja immer noch Menschen, eben mit Hilfebedarf.